955 veröffentlichte Claude Lévi-Strauss seinen Klassiker "Traurige Tropen". Bereits damals schrieb der Autor "Es hätte den Menschen ohne Wälder nie gegeben. Bei Brasilien denke ich zuerst an Brandgeruch." Sätze, die heute aktueller sind denn je.
Die Regenwälder des Amazonas brennen in Lateinamerika. Nicht nur Brasilien ist von den schlimmsten Waldbränden seit Jahrzehnten betroffen, auch im benachbarten Bolivien steht etwa 10.000 km² Regenwald in Flammen.
Lateinamerika scheint uns auch heute noch oft fern. Was im südlichen Teil Amerikas passiert, findet in Europa nur selten Beachtung, auch wenn uns die Auswirkungen direkt beeinflussen. Dabei steht das von europäischen Einwanderern geprägte Brasilien noch stärker im Fokus, die Waldbrände in Bolivien werden kaum wahrgenommen.
International ins Zentrum der Berichterstattung rückte Brasilien in den vergangenen Monaten hauptsächlich durch einen Regierungswechsel. Der neue Präsident Jair Bolsonaro, auch der "Trump der Tropen" genannt, hat seinen ganz eigenen Blickwinkel auf die Brände im Amazonas. Während er Umweltschützern vorwirft, die Brände selbst gelegt zu haben, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken, unterstützt Bolsonaro vor allem die brasilianischen Agrarbauern, die von den Amazonasbränden profitieren.
Brasilianische Farmer nutzen die abgeholzte, oder abgebrannte, Regenwaldfläche als Weideland für ihre Rinder. Brasilien zählt zu den grössten Rindfleisch-Exporteuren weltweit. Der Fleischexport ist ein wichtiges Standbein der brasilianischen Wirtschaft. Bolsonaro hält den Farmern den Rücken frei und duldet somit auch die Deforstung des Amazonas, einem der wichtigsten Eco-Systeme unserer Erde. Etwa 72 000 Amazonas-Brände wurden allein in diesem Jahr von Weltraumsonden registriert. Wie nachhaltig der Schaden für die Amazonasregion ist, bleibt noch abzuwarten.
Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss schreibt 1955 in "Traurige Tropen": „Brasilien war in meiner Vorstellung eine Garbe gebogener Palmzweige, hinter denen sich bizarre Architekturen verbargen. Das Ganze in einen Geruch von Räucherpfannen gehüllt, ein Detail, das sich, so schien es, durch den unbewusst wahrgenommenen Gleichklang der Wörter ‚Brésil‘ (Brasilien) und ‚grésiller‘ (knistern) einschlich, die aber mehr als jede andere seither gewonnene Erfahrung erklärt, warum ich noch heute bei dem Wort Brasilien zuerst an Brandgeruch denke.“
Bereits in den 1930er-Jahren lebte Lévi-Strauss in Brasilien. Der Philosoph war an die Universität São Paulo berufen worden, eine einst von den Franzosen gegründete Universität. Während seines Aufenthalts unternahm er immer wieder Exkursionen in den Amazonas und kam in Kontakt mit verschiedenen Urvölkern, die zu dieser Zeit vom portugiesischen Kolonialismus verschont geblieben waren.
Beeindruckt von seinen Erlebnissen im Amazonas und seinen Begegnungen mit den Naturvölkern Brasiliens, nahm er seine Erfahrungen, zurück in Paris, in seine akademische Arbeit auf. Lévi-Strauss ging in seiner Ethnologie davon aus, dass Naturvölker, die er ebenso mit wildem Denken verband, nicht dauerhaft existieren könnten, auch nicht in den dichten Wäldern der Tropen.
„Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und sie wird ohne ihn enden.“ schreibt Lévi-Strauss. Es hätte den Menschen ohne Wälder nie gegeben. Im Westen hat er den Wald schon vor langer Zeit geopfert für Fortschritt, Kultur und Ordnung.
Der Philosoph gelangte zu dieser Erkenntnis nicht ohne Bedauern und sein Werk "Traurige Tropen" zeugt davon. Das Buch selbst ist ein wildes Werk, das die Ursprünglichkeit des Amazonas einfängt und vieles beinhaltet: Essays, Dichtungen bis hin zum wissenschaftlichen Traktat. Der französische Originaltitel „Tristes Tropiques“ ist ein Wortspiel, da "Tropiques" auch für eine literarische Irritation steht. Lévi-Strauss Trauer und Irritation bezog sich aber nicht nur auf die tropischen Wälder; Er glaubte, dass die Menschen sich nach einer Ursprünglichkeit sehnen, die sie nicht erreichen können und weil sie bereits ahnen, dass auch unsere Zivilisation nicht überdauern wird.
Unter den verbrannten Flächen des Amazonas finden Archäologen häufig Überbleibsel vergangener Hochkulturen, deren Zivilisation unterging und deren Spuren von tropischen Wäldern wieder überwuchert wurden. In Lévi-Strauss "Traurige Tropen" ist der Amazonas ebenfalls beides: Anfang und Ende.